Die Vergangenheit begraben

Es gibt ein Buch mit diesem Titel und zu Recht hat die Autorin Verena Kümmel hinter diesen Titel ein Fragezeichen gesetzt. In ihrem Buch beschreibt die Historikerin nämlich, dass es gar nicht so einfach ist „einen Diktator dauerhaft zu bestatten“. In dem Buch geht es vorrangig um die Leichname von Mussolini und Philippe Pètain, die immer wieder auftauchen. Aber sie sind ja nicht die Einzigen, die scheinbar nicht einfach in der Versenkung bleiben. Alle großen Medien berichten mehrfach darüber, bei welt.de zum Beispiel gibt es einen Artikel, mit dem Titel: „Warum Hitler und Eva Braun zehn Mal begraben wurden“ und das achte und das neunte Begräbnis der sterbliche Überreste fand tatsächlich quasi in meiner Nachbarschaft statt: in Magdeburg.

Es scheint schwierig die Vergangenheit zu begraben. Was ist das Problem dabei? Zum einen gibt es eben brisante Vergangenheit, die mehrere Seiten für sich instrumentalisieren wollen, auch noch Jahre und Jahrzehnte später. Zum Anderen gibt es Fragen, die später auftauchen und dazu animieren die Vergangenheit eben doch wieder ans Licht zu holen.

Um beim Beispiel Hitler zu bleiben, brachte ein hochrangiger sowjetischer General zum Beispiel die Frage auf, ob Hitler sich ehrenhaft erschossen habe oder feige Gift genommen habe und diese Frage führte dazu, dass Hitlers Leiche exhumiert und letztlich hier nach Magdeburg gebracht wurde.

Ich persönlich bin generell sehr schlecht darin Dinge ruhen zu lassen, die nicht vollständig bearbeitet und abgeschlossen sind. In mir sind Kräfte am Werk, die verstehen wollen, die Klarheit wollen und die Missverständnisse ausgeräumt haben wollen. Ich bin auch sehr schlecht darin Vergangenheit, die nicht bearbeitet wurde, ruhen zu lassen. Denn diese unbearbeitete Vergangenheit ist wie ein Stehaufmännchen: sie ist in uns allen, in unseren Eltern und Großeltern, am Werk. Auch wenn sie totgeschwiegen wurde, war sie doch höchst lebendig. Sie ist wie ein geruchloses Gas, was unsere Kindheit prägte und eingebrannt in Geist und Genetik immer noch am Werk ist.

Ich bin alt genug um zu verstehen, dass meine Eigenschaft vor Jahrzehnten tatsächlich gefährlich gewesen wäre. Wer nicht schweigen konnte, brachte sich und andere in Gefahr. Aber nun? Sind wir heute durch das Schweigen vielleicht in Gefahr? Vergiftet uns all das, was unsere Großeltern erlebten und taten von innen her? Welche Auswirkungen hat das auf unsere Seelen, auf unsere Entscheidungen und unsere Überzeugungen?

Mehr und mehr kenne ich Menschen meiner Generation, die das Halbwissen belastet, die Stimmung, die sie auffingen bei bestimmten Themen und das ständige schlechte Gewissen. Das innere Drängen nach Antworten zu suchen und die äußerst präsente Prägung der Kindheit, dass darüber geschwiegen werden soll. Ist das der wahre Generationenvertrag: wir schweigen?!

Als Kind wurde ich von meiner Mutter manchmal als „Nestbeschmutzer“ beschimpft. Dabei stimmte das in der Bedeutung des Wortes natürlich nicht: das Nest hatten längst andere beschmutzt und niemand hatte den Schmutz angerührt und nun war ich das kleine Vögelchen, was nicht den Schnabel hielt, sondern seinen Unmut über den Dreck in die Welt hinauspiepste.

Je mehr ich lese und eintauche in die Zeitepoche des zweiten Weltkrieges und die Zeit danach, umso mehr verstehe ich, aber umso mehr Fragen tauchen manchmal auch auf. Und es gibt weniger und weniger Menschen, die ich dazu befragen kann. Aber nicht nur ich, viele, viele Tausende sind am Fragen und am Suchen. Die zuständige Archive melden längst Überlastung und bitten um monatelange Geduld. Die haben wir auch, brennen die Fragen doch nicht erst gestern auf unserer Seele. Aber wir brauchen die Stärke und den Mut diese Fragen zu stellen, die uns von Kindheit an verboten waren – ob ausgesprochen oder nicht. Wir brauchen das Gefühl, dass das Verstehen und die Antworten richtiger und wichtiger sind als alles so zu lassen.

Wenn ich mir ansehe, wie meine Eltern aufwuchsen, dann sehe ich, dass beide jeweils ein geflüchtetes/ vertriebenes Elternteil hatten. Was macht das mit ihnen? Wie wirkt es sich aus von Menschen aufgezogen zu werden, die völlig entwurzelt waren? Als ich 2006 nach Polen reiste um die Gegend, das Dorf zu sehen, aus dem meine Vorfahren kamen, sprach mein Opa immer noch von „Zuhause“.

Ein Zuhause, was sie Hals über Kopf verlassen mussten unter großen Gefahren und was die großen Drei dann einfach aufteilten und worauf sie kein Recht mehr hatten.

Nach dem 2. Weltkrieg waren allein 12 bis 18 Millionen Deutsche von Flucht und Vertreibung betroffen. Das ist ein großer Teil unserer Vorfahren. Nicht wenige verloren dabei nicht nur Hab und Gut sondern erlebten schreckliche Dinge. Was macht das mit ihnen? Wie viele von ihnen haben darüber sprechen können? Wer hätte sie verstanden? Wer konnte die Sehnsucht nach „Zuhause“ verstehen, wer ausdrücken? Mit wem konnten sie die Scham teilen? Zudem gab es große Identitätsprobleme: in den polnischen Gebieten waren sie die Deutschen, hier die „Polacken“.

Wer wollte an diese schmerzhaften Stellen rühren? Absichtlich niemand. Aber es geschah doch und es war jedes mal eine Tragödie.

Es gab auch in unserer Familie Minenfelder, die zu umschiffen mir nicht immer gelang. Ich hatte eine Cousine, die war ein Jahr älter als ich. Jedes Sommer trafen wir uns auf dem Hof meiner Großeltern in Mecklenburg – Vorpommern. Jedes Jahr erzählte sie mir, was mich an interessantem Schulwissen im nächsten Schuljahr erwartete. Biologie der Fortpflanzung – lernte ich von ihr zuerst.

In einem Sommer wartete sie mit ungeheurem schaurigem Wissen auf: Vernichtung in den Konzentrationslagern im zweiten Weltkrieg. Das beschäftigte sie und dann auch mich ungeheuer. Schließlich beschlossen wir das nachzuspielen. Im extra abgeteilten Kükenabteil auf dem Hof war die „Todeszelle“. Ich war der Häftling, der gequält und mit Todesspritzen „getötet“ wurde. Plötzlich kam Opa um die Ecke und bekam mit, was wir da trieben und er rastete völlig aus. Er schrie uns an und seine Verwandlung machte uns unheimlich Angst. Sicher war es ein makabres „Spiel“. Aber wir waren Kinder und wussten nicht, was wir taten.

Von den Frauen der Familie bekamen wir zu hören: „Opa war doch in Auschwitz. Sprecht Opa nie auf den Krieg an. Das hält er nicht aus.“ Ja, das hatten wir gemerkt und hielten uns von da an meistens an den Schweigekodex.

Als ich in jenem Schuljahr dann lernte, was Auschwitz bedeutete, erfasste mich ungeheures Mitleid. Aber ich hatte nur die Halbwahrheit erfahren: Opa war in Auschwitz – aber als Aufseher, nicht als Häftling.

Er wurde später ebenfalls gefangen gehalten und gequält von Soldaten der roten Armee. Ihm gelang die Flucht aus der Gefangenschaft. Er war unglaublich jung. 1928 war er geboren. Aber was hatte er gesehen, erlebt, getan? Was hatte ihn bewogen dieser Organisation beizutreten? Äußere Wunden verheilten, auch der Hunger, der ihn damals quälte, war ihm längst nicht mehr anzusehen, als ich ihn kennenlernte. Aber etwas fraß ihn von innen auf. Buchstäblich fraßen Magengeschwüre an ihm und innere Dämonen ließen ihn mehr zur Flasche greifen, als meiner Oma lieb war.

Was wäre, wenn die Familie damals nicht geschwiegen hätte, sondern so wie ich – den Sachen hätte auf den Grund gehen wollen? Es wäre gefährlich gewesen und unnatürlich. War man doch froh um jeden, der irgendwie überlebt hatte. Man wollte doch endlich alles hinter sich lassen. Und ich kann es verstehen.

Die Coronazeit ist ein schwacher Abklatsch jener Zeit, aber wie froh ist man jetzt um Normalität, alles vergessen, hinter sich lassen und dennoch gibt es auch hier die unbequemen Stimmen, die nach Aufarbeitung rufen. Und jene, die das Schweigen vorziehen. Sich nicht erinnern können oder wollen. Schriftstücke verschwinden lassen.

Schweigen um zu schützen. Wichtig. Aber richtig? Interessiert uns jetzt das „wie?“ vielleicht mehr? Wie haben sie überlebt? Was waren ihre Beweggründe?

Ein Großonkel erzählte mir vor Jahren von seiner Kindheit. Er erzählte von dem angespannten Verhältnis der deutschen und der polnischen Bevölkerung in der Provinz Posen in der unsere Familie damals lebte und die seit 1871 zum deutschen Reich zählte. Es gab kein reibungsloses Miteinander. Es gab Repressalien und Argwohn von beiden Seiten. So erzählte er schließlich voller Scham, die sich noch rund 70 Jahre später sehr deutlich in seiner Körperhaltung ausdrückte, wie sie als Kinder den einmarschierenden Deutschen zujubelten. Verständlich? Durchaus.

Können wir nicht besser mitfühlen, nachfühlen, trauern und die Vergangenheit loslassen, wenn wir verstehen. Ein unbetrauerter Tod macht später oft Probleme, unbearbeitete Altlasten bringen die Seele oft später zum Schreien. Eine unbearbeitete Vergangenheit unserer Eltern und Großeltern legt dunkle Flecken auf unsere Seele. Denn wir erziehen oft unbewusst. Und vor allem erziehen wir leider nicht zukunfts- sondern vergangenheitsorientiert. Es liegt in der Natur der Sache, dass wir unsere Kinder das lehren, was uns genützt hätte. Ob das für unsere Kinder auch noch Sinn macht, sei mal dahingestellt. Ich habe es oft erlebt, dass meine Kinder vieles besser verstehen und einordnen konnten, wenn sie MICH verstanden. Oft haben meine Erziehungsmaßnahmen doch gar nichts mit dem Kind zu tun, sondern mit mir und meinen Verletzungen, meine Ängsten, meinen Befürchtungen. Genauso haben auch unsere Großeltern und unsere Eltern erzogen.

Wie viele Kinder müssen heute Dinge tun, nur weil die Eltern das für sich gewünscht hätten. Viel spätere Therapie könnte man sich sparen, wenn die Kinder ihre Eltern verstehen könnten und die Eltern transparenter wären. Ehrlicher. Sich offener und ab einem gewissen Alter der Kinder sich auch verletzlicher zeigen könnten.

Die Vergangenheit ruhen lassen, begraben, funktioniert in unserer Generation immer weniger. Es gibt Menschen, die versuchen es mit der Fassaden – Methode. Das zeigen uns Instagramm und Co. Es ist geprägt durch die Verhaltensweisen unserer Eltern: Hauptsache nach außen sieht alles gut aus. Diese Menschen haben unreflektiert übernommen und treiben es auf die Spitze. Aber auch sie leiden. Glücklich wird mit einer tollen Fassade niemand. Wie sieht es innerlich aus – das ist doch die Hauptsache!

Und es gibt die anderen Menschen, Menschen wie mich. Die Fragen haben und verstehen wollen. Nicht urteilen – verstehen, wohlgemerkt.

Egal, wie es sich ausdrückt: geprägt sind wir alle von einer Epoche, die unsere Welt unglaublich erschüttert und durcheinandergewirbelt hat. Entwurzelte und traumatisierte Menschen prägten unser Aufwachsen. Unterschwellige Scham, Bitterkeit, Groll, Sehnsucht, Schuld und Hass prägten die Stimmungen in unserer Kindheit. Wo gehen wir hin damit? Bauen wir weiter Fassade vor den Schmerz oder holen wir ans Licht, was noch geht? In vielen Familien ging das Trauma ja noch weiter durch die DDR – Zeit. Und auch hier geschieht in nur wenigen Fällen eine Aufarbeitung. Wenige Menschen sind bereit darüber zu sprechen. Mein Vater wollte nicht einmal seine Stasi – Akten beantragen – aus Angst zu erfahren wer ihn bespitzelt, wer Informationen über ihn geliefert hatte. Angst, von Freunden und Familie verraten worden zu sein. Das spricht für die Atmosphäre in der wir aufwuchsen und wieder hieß es: „Halt bloß den Mund.“

Mein Vater sagte als Kind zu mir: „Tine, du redest dich nochmal um Kopf und Kragen.“ Ich konnte es nie. Schweigen zu Unrecht und Schweigen über Ungeklärtes. Hieß es nicht in unserer Kindheit ebenso: „Wer nicht fragt, bleibt dumm.“? Aber er bleibt eben auch oft unbehelligt. Er bleibt verschont von Wissen, was ihm den Schlaf kosten könnte. Er eckt weniger an. Er macht sich nicht so unbeliebt. Ich denke, wir brauchen mehr unbeliebte Menschen, mehr Menschen, die anecken. Menschen, die es in Kauf nehmen unbequeme Dinge aufzudecken, die Versöhnung stiften und die Frieden schaffen. Nicht den Friedhof einer begrabenen Vergangenheit, sondern den Frieden einer bearbeiteten Vergangenheit. Ich möchte es wissen, wenn meine Familie jemandem etwas schuldig geblieben ist. Ich möchte die Chance auf Wiedergutmachung – sofern sie in meinen Händen liegt. Ich möchte Tränen weinen dürfen um Unrecht und Schuld, was aus Jugend oder Unwissenheit geschah. Ich möchte verstehen und vergeben und ich möchte Dankbarkeit empfinden über erlebte Güte und Bewahrung über Menschlichkeit in einer Zeit der Unmenschlichkeit. Ich möchte Warnzeichen erkennen und lernen. Kann all das nicht nur geschehen, wenn wir fragen?

Wie wird in deiner Familie mit diesen Themen umgegangen? Hast Du Erfahrungen mit der Bearbeitung jener Zeit? Lass mir gerne einen Kommentar da. Ich freue mich darüber!

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