Pünktlich zum Weltflüchtlingstag möchte ich euch die Fortsetzung der Geschichte natürlich nicht vorenthalten. Ein „Happy End“ kann ich nicht vorweisen, das ist es selbst dann nicht, wenn der Krieg vorbei wäre.
Aber inzwischen leben „unsere“ Ukrainer in einer eigenen Wohnung im Nachbarort. Sie sind nun mehr als drei Monate hier und haben Freunde und Bekannte, Unterstützung und Sicherheit gefunden.
Aber mehr als 100 Millionen Menschen sind auf der Flucht. Ich habe Probleme mit Zahlen, das gebe ich offen zu. Mir liegen eher Worte. Worte kann ich verstehen, erklären, hören, erfassen. Zahlen leider nicht. Um mir die Verluste des II. Weltkrieges vor Augen zu malen, bedurfte es eines Buches namens „Tage der Entscheidung“. In diesem Buch beschreibt der amerikanische Jurist David L. Robbins den Kampf um Berlin. Sein Durchbruch als Autor gelang ihm durch „Krieg der Ratten“, der Geschichte von Stalingrad.
Wenn wir lesen oder hören, dass während des II. Weltkrieges 20 – 40 Millionen Russen (alleine Russen, dann ja noch unzählige andere) ihr Leben verloren haben, dann ist das für Menschen wie mich abstrakt. Zu abstrakt um zu begreifen, was da geschehen ist. David L. Robbins gelang es mir das verständlich zu machen. Er schreibt davon, dass (wenn man von den NIEDRIGSTEN Schätzungen ausgeht) auf jeden METER zwischen Berlin und Moskau 10 tote Russen kamen. DAS durchdringt die Zahlenschranken in meinem Gehirn. Nun können wir uns auch vorstellen, was 100 Millionen auf der Flucht bedeutet. Menschen, die kein sicheres Zuhause haben, von Hunger und Gewalt bedroht, Abenteurer, Wirtschaftsflüchtlinge, sicherlich alles dabei. Familien und Kinder, Junge und Alte. Auf der Flucht. Mit der Hoffnung auf ein besseres Leben.
„Fliehen ist schlimm, Flucht ohne ein Ziel schrecklich.“ Mit diesem Zitat von Walter Ludin lasse ich wieder die junge Ukrainerin zu Wort kommen:
„Am 16. Kriegstag hielt ich es nicht mehr aus, meine Nerven waren am Limit. Mein Tag begann mit nächtlichen Explosionen, meinen Tränen und dem Glauben, dass alles bald enden wird und wir gewinnen werden. Benachbarte Häuser werden von Kugeln zerstört, es gibt kein Dach und keine Wände. In unserem haus wackeln die Türen, wenn die Explosionen beginnen. Es war für mich unmöglich so zu leben, die Angst der Kinder zu erleben. Alle meine Verwandten und Freunde verließen die Stadt ins Ausland. Meine Familie und ich glaubten jeden Tag, dass es bald vorbei sein würde. Aber die schlechte Nachricht, dass Cherson erobert wurde hat uns sehr beunruhigt. Cherson wurde erobert und sie fingen an die Leute dort zu verspotten und zwangen sie die russische Regierung zu akzeptieren. Unsere Stadt ist jetzt täglich bedroht, täglich unter Beschuss. Wir mussten die Kinder retten und gehen. Es war eine notwendige Entscheidung. Es ist schwer sein Haus, sein Auto, seinen Job zu verlassen und sich ins Unbekannte zu begeben, nicht zu wissen, was als nächstes geschieht. Ich wusste nicht, wohin, aber wir mussten dringend eine Entscheidung treffen. Jeden Tag gab es mehr Explosionen und die Lage verschlechterte sich. Meine Cousine und ich beschlossen mit den Kindern zunächst nach Moldawien zu fliehen und von dort aus nach Polen oder nach Deutschland. Es war schwierig sein ganzes Leben in einen Rucksack zu stecken und uns von unseren Männern zu trennen, die in Mykolaev blieben. Der Weg zur Grenze nach Moldawien war schon sehr schwierig. Wir brauchten einen Tag dafür, es gab Granaten auf den Straßen, es war beängstigend. (Anmerkung: um der russischen Armee das Vorwärtskommen zu erschweren, wurden Brücken gesprengt und Straßen vermint. Das macht es natürlich auch für Flüchtlinge schwer.)
In Moldawien fanden wir Freiwillige, die uns in ihr Haus aufnahmen, uns zu Essen gaben und ihre Hilfe anboten. (Anmerkung: sie kamen hier tatsächlich zu acht in einem weißen, klapprigen Kleinbus mit moldawischem Kennzeichen an. Es waren zwei moldawische Männer, die sie hierhergebracht hatten. Umsonst. Kein Geld. Es waren relativ junge Männer, Familienväter, einer hat 10 Kinder, sie nahmen sich hier nicht einmal die Zeit für einen Kaffee: sie müssen zurück, Menschen retten, das Leid ist groß. Diese Moldawier sind meine Helden.)
Sie fuhren uns tagelang in einem Bus, aber wir konnten keine Unterkunft finden und hatten keine Bleibe. Meine Cousine hat einen Freund in Berlin, so sind wir Richtung Berlin gefahren. Aber unterwegs kam die Nachricht, dass seine Wohnung schon voll ist und er uns nicht aufnehmen kann. Er hat uns aber geholfen eine Unterkunft in Deutschland zu finden. Wir sind ohne Essen drei Tage mit den Kindern im Arm gefahren und waren verzweifelt. Wir hatten kein Internet und konnten uns selbst keine Unterkunft suchen. Der Freund aus Berlin fand eine deutsche Familie, die uns aufnehmen würde und wir waren glücklich….“
Den Rest ihres Textes werde ich – in Absprache mit ihr – nicht veröffentlichen, da sie sehr überschwenglich schreibt, wobei wir ihnen alles geholfen und was wir ihnen gegeben haben.
Das haben wir zwar alles getan, aber es war alles nicht so rosig, wie sie das jetzt im Nachhinein beschreibt und auch nicht so einfach. Wir verfügen GOTT sei Dank über eine sehr gute Nachbarschaft und ein gutes Netzwerk. Ohne das hätten wir es nicht geschafft. So gebührt der wahre Dank meinen Nachbarn, die Teile dieser Großfamilie bei sich aufnahmen. Der Dank gebührt Nachbarn, die perfekt russisch sprechen und jederzeit mit Rat und Tat zur Stelle waren. Nachbarn, die dolmetschten, die Fahrten übernahmen zu Ärzten und zu Behörden. Nachbarn, die Wäsche brachten und Geld. Nachbarn, die meinen Kindern Asyl anboten, falls es zuviel wird zu Hause. Eltern aus der Schule, die Spielsachen und Kindersachen und Schulsachen besorgten. Arbeitskollegen, die aushalfen mit allem, was nötig war und mir zuhörten, wenn ich Redebedarf hatte. Nachbarn und Familienangehörige, die Möbel zusammensuchten und Transporter besorgten, beim Umzug halfen, Lebensmittel brachten, anriefen und fragten, Koordinatoren bei Stadt und Landkreis, die sich geduldig alles anhörten und versuchten Lösungen zu finden, die Schule, die bereitwillig aufnahm und die Sekretärin, die Kuchen servierte und Deutschunterricht erteilte, Wohnungsgenossenschaften, die helfen wollten…. es ist soviel gewesen und ich habe sicher noch viel vergessen.
Für einen allein ist die Last zu schwer, der Behördendschungel undurchdringlich und die Bedürfnisse der Schützlinge zu vielschichtig. Aber miteinander haben wir Großes geleistet und das ist das, was mein Herz schneller schlagen lässt. Dieses Geschenk umgeben zu sein von Menschen, die ein großes Herz haben, die anpacken, die zugreifen und die bereit sind zu helfen. Obwohl es nicht ihr Problem ist, obwohl sie selber wenig Geld haben – wie die Moldawier, oder wenig Zeit, wie unsere junge Familie nebenan, oder wenig Platz, wie eine meiner Nachbarinnen, die acht Wochen auf der Couch schlief. Das rührt mich zu Tränen und das macht mir Mut. Solange es Menschen wie diese gibt, die ich in den letzten Monaten erleben durfte: voller Liebe, voller Hilfsbereitschaft, ehrlich, selber kämpfend gegen Überforderung und Lasten, die nicht die ihren waren, solange bin ich voller Zuversicht, was die Zukunft angeht.
Mama Merkel war sich sicher: „Wir schaffen das.“
Diesen Satz würde ich so nicht sagen. 100 Millionen auf der Flucht. 100 Millionen mal Bedürfnisse, Träume, Wünsche Hoffnungen, Geschichten, Schicksale, Ansprüche… wie soll das zu schaffen sein?
Nur zusammen, nur gemeinsam. Nur dann, wenn wir uns gegenseitig unterstützen, schätzen, achten, mitteilen, verzeihen und respektieren, ehrlich begegnen, Grenzen setzen, schützen, versorgen, geben und begleiten.
Alles fängt bei uns an. In unserem Haus, unserer Familie.
Dieser Weltflüchtlingstag heute löst bei mir verschiedene Emotionen aus. Ich bin dankbar in erster Linie in einem Land zu wohnen, was sicher ist und wo es mir gut geht. Ich bin dankbar für die Menschen, die hilfsbereit sind und freundlich. Ich sehe, wieviel unser Land tut um diese Flüchtlinge aufzunehmen und erlebe Schmerz, wenn der ukrainische Botschafter verkündet, dass sich die Flüchtlinge hier nicht wohl fühlen würden. „Meine“ Flüchtlinge haben eine zentral gelegene Wohnung bekommen, ihre Miete und Nebenkosten werden bezahlt. Sie sind in Sicherheit, haben es warm und genug zu essen. Ich vergesse nicht das, was ihnen alles fehlt, natürlich nicht. Ihre Heimat, ihre Familienangehörigen…das alles wiegt schwer. Aber es gibt auch viel Grund zur Dankbarkeit und das können wir alle miteinander lernen. Trotz der Tatsache, dass uns allen etwas fehlt, dankbar zu sein für das, was wir haben. Zu staunen, nichts als selbstverständlich ansehen.
Dankbarkeit für das, was wir haben und Bereitschaft das auch zu teilen. Das ist meine Botschaft für den Weltflüchtlingstag. Meine Familiengeschichte gründet tief auch in dem Leid von Flucht und Vertreibung. Einige Orte meiner Familiengeschichte habe ich besucht. Aber ich bin weit genug weg von dem Erleben. Ich kann Nachspüren, zuhören, lesen, ansehen. Sicher und weit entfernt von ERLEBEN.
Gott sei Dank! Aber wir können MITleben, mit den Flüchtlingen, aber auch generell mit jedem Menschen, der uns heute begegnet. Mach dein Herz groß und weit für die Menschen um dich her. Ja, das schmerzt manchmal, aber du wirst ein LEBEN spüren, was pulsiert und was wirklich lebendig ist. Du wirst deine Bestimmung finden. Den Grund, warum du hier bist.