Was haben wir schon zu sagen?

Hattest du einen ruhigen und besinnlichen Jahreswechsel? Mein Jahreswechsel war sehr ruhig. Seit Ende des Jahres plagte mich eine Kehlkopfentzündung. Am 21. Dezember hatte ich noch einen Gottesdienst bei uns im Pflegeheim gehalten und dabei meine Stimmbänder sehr strapaziert. In bester Mutter – Manier wurde erstmal alles ignoriert – bis es nicht mehr ging. Es ging gar nichts mehr. Ich konnte nicht mehr sprechen, schlucken fiel schwer durch den entzündeten Kehlkopf und ständig hatte ich das Gefühl, als drücke mir jemand die Kehle zu.

Äußerlich war ich nun ruhig. Ich kommunizierte nur noch schriftlich mit der Familie. Bei 5 Personen ein recht ausfüllendes Programm.

Innerlich war ich aber gar nicht ruhig. In mir brodelte all das Ungesagte und zahlreiche Fragen. In mit tobte ein wahrer Sturm, all das, was ich nicht besprechen konnte. Alles in mir brandete gegen die verschlossene Mauer meiner stillgelegten Kehle. Ich bin gewohnt durch Worte zu kommunizieren und es fiel mir nun schwer mich wirklich verständlich zu machen.

Es sollte doch eigentlich ruhig sein. Ruhe, wenn ich meinen Mund halte. Wo war die wahre Ruhe?

Die ist heute schwer zu finden. Sehr schwer.

In dieser Zeit gingen mir so viele Fragen durch den Kopf. Unser Land steht Kopf, es ist alles laut und uns erreichen massenhaft Informationen. Und ich habe mich gefragt: Warum sind wir alle so dauer – wütend und seit wann? Da ich ja nicht telefonieren konnte, habe ich mit meinem Mann und Freunden schriftlich darüber diskutiert. Warum unterschreiben wir alle zig Petitionen, versuchen uns gegenseitig zu überzeugen und entzweien uns so leicht über jeder Diskussion? Was ist mit uns passiert? Warum denken wir mehr und bessere Informationen zu haben als andere?

Wir hatten darüber viele gute, interessante „Gespräche“. Es fing doch alles mit Corona an, dann die Impfung, dann der Ukrainekrieg, dann der 7. Oktober und der Gaza – Krieg. Es ist in diesen letzten 3 Jahren doch gut möglich gewesen mindestens ein Drittel seines Freundeskreises zu verlieren.

Ja wirklich. Wir haben durch unterschiedliche Meinungen doch alle Freunde verloren. Manche sogar den Ehepartner. Niemand von uns war selbst in einem Krieg. Unsere Freunde haben uns auch nichts Schlimmes angetan. Aber DIE Meinung, die sie da haben, geht gar nicht. Warum?

Warum ist es so schlimm? Ich habe vor ziemlich genau 2 Jahren von einem sehr engen Freund, den ich schon fast 30 Jahre kenne folgende Nachricht bekommen:

„Ich stelle hiermit die Kommunikation mit dir ein…Was nach Corona sein wird, überlege ich mir noch…“

Nach Corona kommt sicher nie. Weil wir diese Mentalität weiter betreiben. Wir wollen nichts zu tun haben mit Menschen, die anderer Meinung sind. „Das ist eine Ungeheuerlichkeit, dass du so denkst.“ Und wieder frage ich mich: warum?

In meinem Theologiestudium gab es ein Fach, das hieß: Hermeneutik. Das ist die Lehre von der Auslegung.

Es geht also darum: wie lege ich einen Bibeltext aus. Das gibt es aber auch in der Philosophie. Hier geht es auch um das Auslegen, das Übersetzen, das Verstehen.

Und in der Hermeneutik gibt es ein Prinzip, das nennt sich hermeneutisches Wohlwollen.

Tolles Wort, oder? 😉

Hermeneutisches Wohlwollen meint, dass wir das, was wir auslegen wollen im bestmöglichen Licht betrachten.

Diese Kunst ist uns abhanden gekommen. Wir interpretieren Texte und gesagtes, indem wir sofort schlechtes herausfiltern, Angriffe hören und uns bedroht fühlen. Wir fühlen uns alle voneinander bedroht. Wir sehen uns von Politik und Kirche belogen und verarscht und trauen niemandem mehr gute Absichten zu. Auch engen Freunden scheinbar nicht.

Die Medien tun das ihre dazu und machen uns zu Feinden. Jeder Ungeimpfte war ein Feind des Infektionsschutzes. Man brachte uns durch falsche Behauptungen dazu, dass wir einander als Gefahr sahen. Kinder wurden als Gefahr hingestellt.

Und die Medien hetzen weiter. Betrachte doch einmal unter diesem Gesichtspunkt die Nachrichtenzeilen. Da werden Männer gegen Frauen aufgehetzt. Rechte gegen Linke. (Was immer das heute auch heißen mag.) Letztens gab es von Zeit.de eine tolle Schlagzeile: „Auszug von Frauen + Ich bin unbemerkt in eine Familienfalle getappt“. Das ist schon harter Tobak. Da werden also die Frauen aufgehetzt gegen ihre Familie. Die Generationen gegeneinander aufzuhetzen ist auch ein beliebtes Spaltungsziel.

Es ist nicht einfach im Zusammenleben, das will ich gar nicht behaupten. Aber wir brauchen nicht noch mehr Spaltung und Hetze.

Daniel Friedrich Schleiermacher sagte, dass die Kunst des Verstehens (Hermeneutik) das Gegenstück zur Kunst des Redens (Rhetorik) sei.

Wenn wir jemand anderen verstehen wollen, so tun wir das immer mit der uns eigenen persönlichen „Brille“. Unsere Sicht ist immer gefärbt von meinen Erlebnissen und meinen Zielen, meinen Ängsten. Wenn ich etwas selbst erlebt habe, dann kann ich möglicherweise den anderen darin auch besser verstehen. Manchmal können meine Erlebnisse aber auch ein Hindernis sein. Möglicherweise projiziere ich etwas in Worte, Taten, Situationen hinein, was gar nicht da ist.

Deshalb ist es notwendig sich selbst zuerst zu kennen und zu verstehen. Hermeneutik meiner eigenen Gedanken und Gefühle.

Einer unserer sehr alten Bewohner machte sich letztens große Sorgen. Seine Tochter wollte sich doch melden. Aber er hatte nichts von ihr gehört. Er ist fast blind, kann nicht selbstständig anrufen. Ich rief die Tochter an und ließ ihn mit ihr sprechen. Er weinte vor Erleichterung. es war alles in Ordnung. Er hat viel mitgemacht im Leben, ist ein feinfühliger Mensch. Er hat über 30 Bücher geschrieben. Er sagte zu mir: „Wissen Sie, bei einem Menschen mit meiner Fantasie ist doch schnell ein Unglück herbeigedacht.“

Er kannte sich, er konnte aussprechen, was ihn bewegt und wieso er zu welchem Verhalten neigt. Manchmal wissen wir aber nicht, was uns triggert, was uns treibt in der Meinung des Anderen eine Bedrohung zu sehen. Deshalb ist es der erste Schritt, dass wir uns selbst besser kennen lernen müssen. Und dann darüber sprechen, was uns bewegt.

Ich habe es oft in der Theologie erlebt, dass andere Meinungen als wirkliche Bedrohung erlebt werden. Da kann man die Stelle schwarz auf weiß in der Bibel zeigen. Aber das kann nicht sein. Wenn das wahr wäre, wäre ja mein Glaube verkehrt, so ist dann die Denkweise. Und dann? Ist es nicht möglich, dass wir alle nicht die hundertprozentige Wahrheit haben? Weder theologisch sonst noch in irgendeinem Bereich?

Da kann der Verfassungsrechtler Prof. Christian Waldhoff im ZDF verkünden, dass das Parteiprogramm der AfD nicht rechtsextrem ist. Für viele wird das so bleiben. Einfach, weil es nicht anders ins Weltbild passt. So gibt es übrigens auch mehrere AfD – Politiker, die zum Islam konvertiert sind. Passt das ins Weltbild? Nein? Stimmt aber.

Ich denke Angst ist ein Grund, dass wir uns von anderen Meinungen bedroht fühlen. Diese Angst hatten wir bei den Lockdowns, bei den Impfungen und in vielem anderem.

Das kenne ich auch von mir selbst. Ich sah die Bilder vom 7. Oktober. Ich sah die Babys, die blutigen Kinderbettchen, die Frauen und in mir war wochenlang ein Grauen und Entsetzen, was ich nicht in Worte fassen konnte, auch wenn ich damals keine Kehlkopfentzündung hatte. Der Staat Israel hat übrigens die Filme der Bodycams der Terroristen freigegeben. Auf saturday-october-seven.com kann man sich diese Gräueltaten ansehen. Ich empfehle es ausdrücklich nicht.

Mir ging es durch die Videos und Bilder sehr schlecht, da ich selbst als Jugendliche einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen war.

In dieser Zeit schickte mir ein Freund unkommentiert den Brief eines Ägypters, der über Israel hetzte und das Massaker als gerechtfertigt hinstellte. Ich hatte keine Kraft für hermeneutisches Wohlwollen. Ich sah nur, was Hass und Hetze bereits angerichtet hatten. Und war gefangen in meinem inneren Grauen und Angst.

All das macht uns nämlich Angst, dazu kamen dann noch gewalttätige Demonstrationen von dieser Seite mit zahlreichen verletzten Polizisten. Und schon können wir nicht mehr mit einem Achselzucken die andere Meinung akzeptieren. Ich würde mir das wünschen – aber es ist nicht immer möglich. Es ist nicht möglich, wenn wir in dieser Ausnahmesituation innerlich feststecken. Das können wir nur versuchen zu kommunizieren, aber es ist möglich, dass der andere das nicht verstehen kann.

So war es in meinem Fall.

Was haben wir also zu sagen? Jeder von uns hat nur dieses eine Leben und jeder muss nach seinem Gewissen handeln und leben. Deshalb wird es uns nicht immer gelingen Einheit zu wahren.

Ich wünsche mir, dass wir bei gewollter Spaltung der Medien besser hinschauen und wachsamer sind.

Vielleicht gelingt es uns auch bei Themen, die uns nicht so nahegehen, nachzufragen, zuzuhören, die andere Meinung aushalten. Oder vielleicht ist auch möglich hermeneutisches Wohlwollen einzuüben und die guten Absichten des Anderen erkennen und ein gutes Licht auf die Einsicht des Anderen zu werfen.

Möglicherweise lernen wir uns besser kennen und können uns immer besser erklären.

Vielleicht haben wir erst Frieden und innere Ruhe, wenn wir gesagt haben, was uns auf den Nägeln brennt. Obwohl es heute schon teilweise so ist, wie ich es aus DDR Zeiten kenne: es wird nur sein Teil gedacht. Ein ehemaliger Klassenkamerad hat mich deshalb erst zur Rechenschaft gezogen: man kann doch nicht sagen oder scheiben, was man denkt! Lieber den Mund halten. Thomas Gottschalk hat das als Grund seines Karriereendes deutlich benannt. Er kann im Fernsehen nicht mehr das sagen, was er zu Hause sagen würde. Für ihn eindeutig eine schlechte Entwicklung.

Aber wie Marc Aurel schon sagte:

„Oft tut auch der Unrecht, der nichts tut. wer das Unrecht nicht verbietet, wenn er es kann, der befiehlt es.“

Vielleicht ist es auch diese Erkenntnis, die uns gebietet unsere Meinung zu sagen, dauer – wütend zu sein, weil wir dauernd Unrecht sehen.

Ich hatte in den letzten Wochen nicht viel zu sagen. Meine Stimme hat nicht weit gereicht. Aber doch drängt es uns innerlich darauf zu reagieren, was von außen auf uns einströmt.

Ich habe gebacken. Gebacken für die Bauern, die tagelang in der Kälte unterwegs waren und noch sind. Die um ihr Leben kämpfen. Dieser Berufsstand hat die höchsten Selbstmordraten. Ihnen wird schon lange alles vorgeschrieben. Keine Freiheit mehr, keine Möglichkeit nach eigenem Erkennen und innerer Notwendigkeit zu handeln. Sie waren schon lange so geknebelt. Nun stehen sie auf. Ob mein Kuchen nun einen Unterschied macht an ihrer Lage, bezweifle ich. Aber wenn ich nur eine zehntel Sekunde im Leben eines Menschen besser machen kann, dann will ich das tun! Das treibt mich an.

Wenn wir ein freundliches Wort sagen könnten, dann sollten wir es tun. Wenn wir Freundschaften retten können, dann sollten wir das versuchen. Wenn wir klare Worte haben, dann sollten wir sie sagen. Wenn wir lernen können uns und andere besser zu verstehen, dann lasst es uns in Angriff nehmen. Ich kenne einige, die jetzt gelernt haben, wie es den Bauern eigentlich geht. Es gab in den letzten tagen einige Aha – Momente und ein Verstehen. Aber erst, seitdem drauf aufmerksam gemacht wird. Möglicherweise gibt es mehr Momente in unserem Leben, wo wir gezwungen werden andere zu verstehen, zu lernen.

Ich hoffe sehr, dass auch wieder irgendwann Frieden einkehrt. Innere Ruhe, wenn wir verstehen und verstanden werden. Äußere Ruhe, wenn Dinge wieder geordnet sind.

Ich bin wie immer gespannt auf deine Meinung. Geht wie immer auch privat. Schreib mir, wie du diese Zeit erlebst, was dich wütend macht.

Ich wünsche dir, dass du viel Frieden erlebst und Freiheit in deinen Beziehungen. Dass du verstanden wirst in dem, was dich antreibt, dass du verstehst und Brücken schlagen kannst.

Möge die Welt durch uns ein besserer, ein hellerer (und ein leckerer) Ort werden!

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