Ja, ich will! Immernoch.

Letzten Freitag kam mein Mann nach Hause. Er war wieder einige Tage auf Dienstreise gewesen und hatte mir wieder etwas mitgebracht. Ja, er bringt mir meistens etwas mit, was mir Freude macht. Da ich keine einfache Frau bin, ist es nicht Schokolade, Blumen oder Schmuck. Was mir Freude macht sind Worte. Worte, die von Herzen kommen. Und so sitzt er oft in seinen Hotelzimmern und schreibt mir. Handschriftlich, auf Hotelbriefbögen – und das ist das allerschönste Geschenk für mich. Viel wertvoller als jeder Diamant.

Ich las seinen Brief, den er mir überreichte, voller Freude, aber plötzlich bekam ich einen Schreck. Denn unter P.S. stand:

„Wir sind heute 27 Jahre zusammen und haben viele schöne Zeiten verbracht.“

Er hatte Recht. Es war unser Jahrestag und ich hatte überhaupt nicht daran gedacht.

Zum einen lag es daran, dass es in unserem Leben im Moment ziemlich voll ist. Aber auf der anderen Seite muss ich doch feststellen, dass es vor 27 Jahren nichts Wichtigeres gab als ihn uns unsere Liebe!

Was passiert mit uns im Laufe der Zeit? Wie kann es geschehen, dass Jahrestage und Liebe begraben sind unter Wäschebergen und Alltagssorgen?

Er hat recht in seinem Brief, wir haben viele schöne Zeiten miteinander verbracht. Wir haben 4 wunderbare Kinder bekommen, wir haben gebaut, wir haben getanzt, wir haben gefeiert. Oh, was haben wir gefeiert – so viele wunderbare Feste und Ereignisse: Geburten und Einschulungen, Geburtstage und Schulabschlüsse, Hochzeitstage und so viel mehr. Und die schönen Urlaube, die wir gemeinsam erleben durften.

Aber wir haben auch Schweres miteinander geteilt. Wir haben uns gegenseitig im Krankenhaus besucht. (Er mich sogar viele Monate lang.) Wir haben gemeinsam gegen Unrecht und Schwierigkeiten gekämpft, haben kranke Kinder gepflegt, wir haben unsere Väter beerdigt und gemeinsam getrauert. Und wir haben gestritten. Ja tatsächlich, wir haben gestritten. Und letztens habe ich endlich das Muster erkannt.

Es läuft immer gleich ab: wir haben ein Problem von außen, egal was und wir gehen dieses Problem an, zuerst gemeinsam. Aber dann sind wir uns uneinig über:

  1. die Größe des Problems
  2. das richtige Vorgehen
  3. was die Lösung sein sollte…

Also so ziemlich über alles. Das kommt daher, dass wir zwei völlig verschiedene Typen sind. Ich bin impulsiv und gesellig und ähnele laut den Kindern einem hyperaktiven Eichhörnchen, während er eher bedachtsam, ruhig und in der Tiermetapher eher die Schildkröte ist.

Um unser Problem von außen zu lösen müssen wir also erstmal unsere innere Mitte finden. Wir müssen darüber reden und streiten und erklären und beschreiben, damit der andere verstehen kann, worum es uns geht, was wir dabei fühlen und was uns wichtig ist.

Letztens hat ein Bekannter zuerst uns beide angeschrieben und wollte einen Streit beginnen. Er schickte dann schließlich Nachrichten, die ich geschrieben hatte an meinen Mann weiter mit der Notiz, dass er meinen Mann darüber informieren wollte. Aber wir waren längst intensiv dabei uns auszutauschen. Wir haben verstanden, dass wir reden MÜSSEN, da wir instinktiv eben nicht ahnen, was den anderen bewegt. Es braucht keinen anderen mehr, der unseren Partner informiert, wir haben gelernt zu reden und gemeinsam zu entscheiden.

Und so konnten wir diese Sache gut lösen. Und ich dachte: „Das wird ein Spaß, wenn wir das erst richtig draufhaben.“ Denn, gemeinsam sind wir einfach unschlagbar.

Ich habe letztens in einem Buch * ein wunderschönes Beispiel gelesen. Dort stand: Woher wusste Adam, dass Eva perfekt zu ihm passte?

Ich dachte ja erst, dass die Lösung vielleicht in der mangelnden Auswahl begründet war, aber die Schriftstellerin wollte auf etwas anderes hinaus.

Sie schrieb, dass Eva etwas hatte, was ihm fehlte. Die berühmte Rippe. Er fand in ihr also das Teil, was ihm fehlte. Und so geht es uns mit unseren Partnern. Wir finden dort das, was uns fehlt.

Ich finde bei meinem Mann Ruhe und Beständigkeit, Besonnenheit und Frieden, Intelligenz und viel Wissen,….und noch viel mehr. Er findet bei mir viele Geschichten, Emotionen und Ideen, viele Freunde und ständige Bewegung…

Das bringt Spannung. Denn oft wünschen wir uns nicht das andere Puzzleteil, sondern einen Spiegel. Wenn wir verstanden werden wollen ist es nicht vorteilhaft, wenn unser Gegenüber völlig anders tickt. Das kann zu Verletzungen und zu Missverständnissen und vielen anderen unangenehmen Dingen führen.

Andererseits, wo bliebe unser Wachstum? Wäre es wirklich besser mit einem Ja – Sager an unserer Seite? Wachsen wir nicht gerade daran, dass wir Dinge aus anderen Blickwinkeln betrachten und lernen einander zu verstehen? Manchmal entmutigt es uns natürlich, wie lange das dauert.

Letztens klagte mir ein 99jähriger Patient sein Leid über eine Auseinandersetzung, die er hatte. Ich nahm ihn in den Arm und sagte zu ihm: „Aber man muss sich doch nicht über alles aufregen.“ Er sagte daraufhin: „Ja, das stimmt, aber dafür reichen 99 Jahre nicht, um das zu lernen. Da muss ich wohl 104 werden.“

Und ich dachte mir, dass er das gut getroffen hat. Ich habe es noch nicht gelernt mich nicht über alles aufzuregen. Es gibt noch so viel, was ich lernen muss und ich staune, dass mein bester Lehrmeister für viele Dinge mein Mann ist. Er regt sich nicht über alles auf – im Gegenteil, ihn bringt so schnell nichts aus der Ruhe.

Er hat eben genau all das, was mir fehlt. Er ist mein perfekter Partner, meine Seelenergänzung. Es ist alles da, was ich brauche! Ich muss nur lernen seine Sichtweise zu schätzen, freudig seine Gedanken herausfinden und nicht meine Meinung für die richtigste halten. Das sollte ich doch in 99 Jahren schaffen, oder? 😉

Bis dahin gehe ich täglich kleine Schritte. Ich weiß, dass viel Austausch nötig ist, um unsere unterschiedlichen Sichtweisen zu verstehen und ich möchte täglich dankbar sein. Dankbar für diesen Menschen an meiner Seite, der genau das hat, was mir fehlt.

Und mein Vorsatz für die nächsten 27 Jahre ist, dass ich verstehen möchte. Ich möchte verstehen und nicht mehr so sehr darauf beharren verstanden zu werden. Ein hohes Ziel. Das Motto lautet lernen und versuchen, stolpern, hinfallen und wieder aufstehen.

Und Versöhnung ist schließlich immer das Schönste an einem Streit. Das Allerschönste ist aber, wenn man merkt, dass man einen Schritt voran gekommen ist, dass man besser harmoniert, der Streit kürzer dauert und die Ergänzung unserer Stärken einfach unschlagbar ist.

Auch, wenn du heute vielleicht keinen Jahrestag hast, wünsche ich dir, dass du die Liebe feiern kannst. Es gibt so vieles, was im Moment in der Welt nicht schön ist. Hass und Gewalt und Tod und Leid. Unser Zuhause darf eine Oase des Friedens sein. Ein Ort, wo Jeder angenommen ist und wir aneinander glauben, einander fördern und uns gemeinsam freuen. Das sollte doch ausstrahlen in unsere Welt, in die Schulen, unsere Dörfer und Städte.

Gestern hörte ich ein Interview mit einer jüdischen Frau aus einem Kibbuz in Israel. Sie berichtete über ihr Erlebnis am 7. Oktober. Sie liebt es am Wochenende sehr früh morgens mit ihrem Fahrrad unterwegs zu sein. Das tat sie auch am 7. Oktober, als die Hölle hereinbrach. Sie fuhr mit ihrem Rad zurück zum Kibbuz und wäre den Schlächtern und Vergewaltigern geradewegs in die Arme gelaufen. Sie wurde gerettet von muslimischen Arabern, die in ihrem Kibbuz arbeiteten und sie in Sicherheit brachten. Auch diese wurden interviewt und erzählten ihre Geschichte. Am Ende des Interviews nahmen sich alle erneut in die Arme und man spürte das starke Band des gemeinsam Überstandenen.

Die Liebe schafft es alle Unterschiede zu überwinden. Und in unseren Familien legen wir den Grundstein dazu.

*“Yemima Mizrachi speaks“ Artscroll Series

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